Aus einem Glas
von Nicole Vergin
Es ist Sonntag. Ich sitze gemütlich auf dem Sofa. Du machst Dich fertig, um eine Runde zu laufen. „Kannst Du mir vorher noch eine Grapefruit Schorle machen?“
Kurz darauf kommst Du mit dem vollen Glas in der Hand um die Ecke. Ich bitte Dich, es auf Deinem Tischset abzustellen. So habe ich das Gefühl, mit Dir diese Schorle zu teilen.
Während Du bereits durch die frühlingshafte Natur läufst, wird vor meinem inneren Auge die Vergangenheit sichtbar. Ich sehe mich selbst, wie ich auf dem hellbraunen Sofa meiner Eltern sitze. Neben mir mein Vater. Vor ihm auf dem Tisch, steht ein Brett mit einem belegten Brot.
Ich „klaue“ mir ein Stück davon, beiße genüsslich hinein. Es schmeckt so gut. „Soll ich Dir auch eines schmieren?“, fragt meine Mutter. Ich verneine, so wie immer. Denn es gibt nichts besseres, als von dem was mein Vater isst, mit zu essen. Von seinem Teller Stück für Stück zu stibitzen.
Und egal, wie müde er war, hat er dieses Spiel immer mitgespielt. Hat versucht, mich davon abzuhalten. Hat den Teller ein Stück zur Seite geschoben, mit einem verschmitzten Lächeln auf seinem Gesicht. Schließlich war ich seine Lieblingstochter. Und er mein Lieblingspapa.
Obwohl ich heute weiß, dass ich unsere Lebenswege irgendwann getrennt habe, fühle ich trotzdem noch dieses Glücksgefühl. Dieses, mich bei ihm sicher und behütet fühlen können. Eben dieses Lieblingspapa-Gefühl.
Und vielleicht ist unser aus-einem-Glas-trinken Ritual genau die Verbindung, die ich zu meiner Vergangenheit mit meinem Vater brauche. Damit ich nicht voller Verbitterung und Schmerz auf all das Schlechte schaue, sondern mich an das Glück und die Liebe erinnere, die ich damals gefühlt habe.
Ich greife nach dem Glas, schließe die Augen und nehme einen tiefen Schluck.